Perspektiven für die Arbeitsmedizin - ganzheitliche abeitsmedizinische Vorsorge - Diskussionspapier des Ausschusses für Arbeitsmedizin (AfAMed)
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Zusammenfassung:
Auf Initiative des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) hat der Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed) die derzeitige Situation, Stärken, Schwächen und den Entwicklungsbedarf der Arbeitsmedizin in Deutschland bewertet. Daraus werden Perspektiven für die Arbeitsmedizin, Diskussionsanstöße und Empfehlungen zur Verbesserung ihrer Rahmenbedingungen in Deutschland abgeleitet. Besonders werden dabei berücksichtigt:
- Die Bitte der Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder an das BMAS, den AfAMed mit der Erstellung eines Konzepts zur Verbesserung der Situation der Arbeitsmedizin zu beauftragen
- Der Wandel der Arbeit und ihrer gesundheitlichen Aspekte, insbesondere durch die Globalisierung der Wirtschaft, den technologischen Wandel, die demografische Entwicklung und nicht zuletzt die aktuelle Pandemie
- Verfügbare Daten zur Betreuungssituation der Betriebe durch Betriebsärzte sowie zur Nachwuchssituation in der Arbeitsmedizin
- Rolle und Beitrag der Arbeitsmedizin im betrieblichen Gesundheitsmanagement
- Rolle und Beitrag von Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmedizinern in Institutionen des Arbeitsschutzes
- Die arbeitsmedizinische Forschung und Lehre
- Rolle und Beitrag der Arbeitsmedizin im Arbeitsschutzsystem Adressaten dieser Stellungnahme des AfAMed sind das BMAS, die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK), die staatlichen Arbeitsschutzinstitutionen, die gesetzliche Unfallversicherung, die Organisationen der Sozialpartner, Ärztekammern, weiterbildungsbefugte Ärztinnen und Ärzte für Arbeitsmedizin, arbeitsmedizinische Akademien und weitere Partner der betrieblichen Prävention.
Ziel ist es, eine positive Entwicklung der Arbeitsmedizin in den kommenden Jahren zu fördern, damit ihre Potenziale für Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten optimal genutzt werden können.
Zur betriebsärztlichen Versorgungssituation stehen Daten aus verschiedenen Erhebungen zur Verfügung. Diese sprechen dafür, dass die arbeitsmedizinische Betreuung in größeren Betrieben überwiegend gewährleistet ist, während Klein- und besonders Kleinstbetriebe (KKU) in der Mehrzahl der Branchen arbeitsmedizinisch unterversorgt sind. Die Daten belegen, dass viele Klein- und Kleinstbetriebe auch keine Fachkräfte für Arbeitssicherheit bestellt haben. Die alternativen Betreuungsmodelle der Unfallversicherungsträger haben zu einer Erhöhung der Betreuungsrate beigetragen, dennoch haben viele KKU keine Fachkräfte für Arbeitssicherheit oder BetriebsärztInnen bestellt - damit konnte auch auf diesem Wege keine umfassende Lösung erreicht werden. Die Unterversorgung ist nicht allein mit einem Mangel an Betriebsärztinnen und Betriebsärzten erklärbar. Auch die mangelnde Kenntnis oder Akzeptanz der Regelungen und Angebote des Arbeitsschutzes in Klein- und Kleinstbetrieben und die bisherige Art der Überwachung tragen möglicherweise dazu bei.
Für die Zukunft zeichnet sich eine positive Entwicklung der Nachwuchssituation in der Arbeitsmedizin ab. Nach der von der Bundesärztekammer 2019 veröffentlichten Statistik zur Entwicklung der Zahl der Ärztinnen und Ärzte mit arbeitsmedizinischer Fachkunde 2002-2019 gemäß §§ 3, 6 UVV "Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit" (DGUV Vorschrift 2) ist die Anzahl der ArbeitsmedizinerInnen in diesem Zeitraum stabil geblieben, wobei diese Zahl die
tatsächlichen Kapazitäten nicht erkennen lässt (beispielsweise prozentualer Betriebsbetreuungsanteil beispielsweise bei PraxisinhaberInnen, Teilzeit).
Im Jahr 2018 wurden durch Beschlüsse des Ärztetags die Zulassungsbedingungen zur Facharztweiterbildung weiter gefasst und die Aufnahme einer kürzeren, berufsbegleitenden Weiterbildung „Betriebsmedizin“ in der Musterweiterbildungsordnung verabschiedet, die dem ärztlichen Nachwuchs den Zugang zur Arbeitsmedizin erleichtert. Über 500 Erstanmeldungen zu den arbeitsmedizinischen Grundlagenkursen bereits im ersten Quartal 2021 lassen eine weitere Verbesserung der Nachwuchssituation in den nächsten Jahren erwarten.
Eine von der Bundesärztekammer initiierte Arbeitsgruppe hat sich Mitte 2021 mit den verfügbaren Daten zur arbeitsmedizinischen Versorgungssituation befasst. Beteiligt waren unter anderem mehrere Ärztekammerpräsidenten, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und ein Unfallversicherungsträger. Sie kam zu dem Ergebnis, dass Ende 2019 ca. 8.100 Ärztinnen und Ärzte mit einer arbeits- oder betriebsmedizinischen
Qualifikation und zusätzlich 1.000 Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung für die Versorgung zur Verfügung standen - also insgesamt ca. 9.100 Ärztinnen und Ärzte. Die Zahl der jährlichen Facharztanerkennungen sind im Zeitraum von 2009 bis 2020 um 70 % gestiegen; im Jahr 2020 schlossen insgesamt 290 Ärztinnen und Ärzte eine Weiterbildung in der Arbeitsmedizin/Betriebsmedizin ab. Die Arbeitsgruppe arbeitet aktuell an der Datengrundlage für ein verbessertes Monitoring der arbeitsmedizinischen Versorgungssituation.
Der Wandel der Arbeit und neue Herausforderungen, wie zum Beispiel Gesundheitsrisiken durch die derzeitige Pandemie unterstreichen den Bedarf arbeitsplatznaher betriebsärztlicher Betreuung. Diese benötigt eine angemessene wissenschaftliche Begleitung, die der Entwicklung und Vielfalt der Arbeitsbedingungen gerecht wird. Die Forschungs- und Publikationsleistung der arbeitsmedizinischen Institute und gewerbeärztlicher Institutionen in Deutschland hat ein sehr hohes Niveau erreicht - und auch arbeitsmedizinische Lehre und Praktika erhalten immer wieder gute Bewertungen durch die Studierenden der Medizin.
Andererseits fehlen an 15 medizinischen Fakultäten Institute bzw. Lehrstühle für Arbeitsmedizin, und die Zahl der Gewerbeärzte in Deutschland sinkt seit Jahren
kontinuierlich. Das schränkt die arbeitsmedizinischen Forschungskapazitäten, aber auch die Sichtbarkeit des Fachgebiets für Studierende deutlich ein und sollte in den kommenden Jahren Anlass für die Wiederbesetzung und Neugründung arbeitsmedizinischer Institute an diesen Fakultäten und für die Wiederbesetzung und Stärkung gewerbeärztlicher Stellenangebote sein.
Neben den betriebsärztlichen Aufgaben der Prävention arbeitsbedingter Erkrankungen und Berufskrankheiten, beim Infektionsschutz und der Pandemievorsorge, im betrieblichen Eingliederungsmanagement und im betrieblichen Gesundheitsmanagement wird in dieser Stellungnahme die Weiterentwicklung der arbeitsmedizinischen Vorsorge ausführlicher behandelt. Die arbeitsmedizinische Vorsorge wurde durch die Verordnung
Arbeitsmedizinische Vorsorge (ArbMedVV) und konkretisierende Arbeitsmedizinische Regeln (AMR) sowie Arbeitsmedizinische Empfehlungen (AME) wesentlich gestärkt und modernisiert. Auf der Grundlage der inzwischen in der Praxis gesammelten Erfahrungen werden verschiedene Vorschläge und Diskussionsanregungen für die Weiterentwicklung der arbeitsmedizinischen Vorsorge gegeben - unter anderem für die Entwicklung einer Konzeption „Ganzheitliche arbeitsmedizinischer Vorsorge“.
Arbeitsmedizinische Vorsorge trägt zu einer Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung bei. Bei Einführung neuer Technologien können arbeitsmedizinische Vorsorgeangebote den Prozess begleiten und erforderliche Schutzmaßnahmen rechtzeitig identifizieren. Es wird eine Diskussion darüber angeregt, auf welche Weise derartige arbeitsmedizinische Vorsorge gefördert, in der ArbMedVV abgebildet und in den Betrieben umgesetzt werden kann.
Täglich werden Betriebsärztinnen und Betriebsärzte mit vielfältigen Fragestellungen konfrontiert, auf die weder die Fachliteratur, noch heutige Informationsplattformen oder Expertensysteme eine praxisrelevante Antwort geben. Es geht nicht nur um Gefährdungen, sondern um präventives Gestaltungs-Know-How. Wie plant man ein neues Call-Center oder ein Gentechnik-Labor sicher und gesundheitsgerecht? Wo findet man kontinuierlich aktualisierte präventive Gestaltungsbeispiele und „models of good practice“ betrieblicher Prävention? Betriebsärztinnen und Betriebsärzte, aber auch Fachkräfte für Arbeitssicherheit würden bei solchen Fragestellungen sehr von einer Unterstützung durch ein gemeinsames, partizipatives Wissensmanagement-System für die Sicherheit und Gesundheit profitieren, dessen Eckpunkte in dieser Stellungnahme vorgeschlagen werden.
Der AfAMed will mit dieser Stellungnahme Empfehlungen und Impulse für eine bessere Nutzung der Potenziale der Arbeitsmedizin und zugleich für die Akzeptanz und Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes in den Betrieben geben. Die Perspektiven für die Arbeitsmedizin hängen - neben Kompetenz und Initiative ihrer Vertreter sowie der Attraktivität des Fachgebiets - nicht zuletzt von einem Konsens aller Institutionen und Partner des Arbeitsschutzes ab, die Entwicklung der Arbeitsmedizin zu fördern.